Nachtwache, Intensivzimmer. Alles ruhig, nur ein Patient. Die Infusion tropft gleichmäßig, alle zwei Sekunden ein Tropfen, der Heizkörper gluckert leise. Gedämpftes Licht. Die Zeit tropft zäh, wie Honig. Alle 15 Minuten Puls ablesen, Blutdruck messen, Fieberthermometer ablesen, Ausscheidungen kontrollieren. Roter Stift, blauer Stift, Bleistift, alles in die Kurve eintragen, schön sauber mit dem Lineal, sonst Stress mit der Stationsschwester. Alles Routine. Und wieder Langeweile. Lesen verboten, man ist ja schließlich für den Patienten da, frisch operiert, nicht dass es Komplikationen gibt. Auf dem Gang geht eine Türe, irgend jemand auf Station geht zur Toilette. Ansonsten: alles ruhig. Langeweile. Die Zeit kriecht. Zäh. Sein Herzschlag ist normal, gleichmäßig zieht der Lichtpunkt auf dem EKG-Oszilloskop seine Bahn, rauf und runter, Systole, Diastole. Müde. Schon die dritte Nachtwache. Und erst eins. Noch fünf Stunden bis zum Schichtwechsel. Die Zeit steht fast still. Es ist warm im Intensivzimmer. So warm, dass man ohne Bettdecke einschlafen könnte. Wieder messen, Puls, Blutdruck, Temperatur, Ausscheidungen, Messglas entleeren, Hände waschen, Kurveneintrag. Da bleibt mein Blick auf einer Zahl hängen. Sein Geburtsdatum: Das ist ja meins! Doch nicht ganz, genau zehn Jahre älter als ich ist er, 29. Neugierig blättere ich weiter. Motorradunfall, Milzriss, Niere verletzt. Milz entfernt, Niere teilrestituiert. Ich lege die Kurve wieder weg und starre an die Decke. Nichts zu tun.
Die Gedanken wandern. Wo werde ich wohl in zehn Jahren sein, mit 29? Auch hier? – ein weißes OP-Pflaster über den ganzen Bauch, Drainageschläuche mittendrin, in die das Wundsekret tröpfelt. Irrsinnige Schmerzen, wenn die Narkose nachlässt. Lachen tut weh, Reden auch. An Aufstehn gar nicht zu denken. Erst am zweiten Tag, eine Schwester links, eine Schwester rechts, die meisten lassen sich gleich wieder wimmernd auf die Bettkante fallen. Hoffentlich nicht. Ich schrecke hoch. Ein Geräusch? – Nein, ein Geräusch zu wenig: es tropft nicht mehr. Neue Infusionsflasche anhängen, Eintrag in die Kurve, Blick auf die Uhr, Puls, Blutdruck, Temperatur, Ausscheidungen. Kleine Flöckchen von geronnenem Blut schwimmen im Urin. Messglas ablesen, Ventil öffnen, die Flöckchen tropfen mit in den Beutel. Kurvenblätter, roter Stift, blauer Stift, Bleistift. Langeweile. Ich läute. Margret kommt, sie hat heute Nacht Dienst auf Station. „Hallo!“ flüstere ich. „Könntest du mich mal kurz ablösen, ich brauch dringend einen Kaffee und müsste auch mal wohin.“ „Na klar. Hinten ist alles ruhig.“ In der Stationsküche steht der Kaffeepott, ich gieße mir einen Becher ein. Zwanzig vor zwei. In fünf Minuten wieder ablesen. Doch, es tut gut, sich nach dem langen Sitzen wieder mal ein paar Schritte zu bewegen. Und hoffentlich hilft der Kaffee gegen die Müdigkeit. Der Becher ist leer, ich gehe wieder den Flur hinunter zum Intensivzimmer, Margret ablösen. Die hat es gut, wenn nicht gerade einer läutet, kann sie lesen oder fernsehen, allerdings läuft um die Zeit sowieso nichts vernünftiges mehr. Margret geht wieder auf Station und ins Schwesternzimmer. Ich setzte mich wieder auf meinen Stuhl, lese ab, wenn es Zeit ist, trage ein und gähne. Plötzlich stöhnt er. Ich schaue hin: Seine Augen sind geschlossen. Wahrscheinlich lässt die Wirkung der Schmerzmittel nach. Dann ist er wieder ruhig, die Infusion tropft vor sich hin, die Heizung gurgelt leise. 15 Minuten später: Puls, Blutdruck, Temperatur ... das Thermometer ist weggerutscht, ich suche in den Laken. Da schlägt er die Augen auf, starrt mich an, stöhnt. Ruckartig greift er nach meiner tastenden Hand: „Was tust du da?“ „Sie sind im Krankenhaus. Sie hatten einen Unfall.“ sage ich, aber er hört mich nicht, schaut durch mich hindurch. „Ich muss weg.“ sagt er und versucht sich aufzurichten. Mit einem Schmerzenslaut fällt er zurück und reißt sich dabei die Infusionsnadel heraus. Die Elektrolytlösung tropft auf den Boden, Blut auf die Bettdecke. Er tastet in Richtung seines Bauches, erwischt eines der EKG-Kabel und zieht daran. „Was ist los mit mir?“ schreit er an mir vorbei. Panisch drücke ich den Klingelknopf, ,Hilfe, Margret, komm schnell´ denke ich und versuche, seine Hand festzuhalten. Das EKG pfeift durchdringend, das Kabel ist ab. Ich schalte mit zitternder Hand das Gerät aus. ,Nur nicht die Drainageschläuche, sonst muss er noch mal unters Skalpell.´ denke ich. Er versucht wieder, aufzustehen und schreit dabei vor Schmerzen. Ich versuche, ihn zu beruhigen, aber er nimmt mich immer noch nicht wahr.
Gott sei Dank, Margret ist da. Sie erfasst die Situation sofort, greift nach dem Telefon und ruft den diensthabenden Arzt. Dann helfe ich ihr, den wimmernden und stöhnenden Mann wieder richtig hinzulegen. Sie hält seine Hände und redet beruhigend mit ihm, wie mit einem kleinen Kind. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn. Meine Panik legt sich, ich fange wieder an zu funktionieren: ein Pflaster für die blutende Hand; Infusion zudrehen, Nadel in den Infektionsmüll, mit Zellstoff den Fußboden aufwischen, Fieberthermometer und Ausscheidungen ablesen und eintragen, neue Bettdecke holen, die alte abziehen und in die Desinfektion. Margret spricht weiter auf mit ihm. Sie tupft seine Stirne trocken. Als er wieder zur Ruhe gekommen ist, lässt sie sich ein neues Infusionsbesteck geben und legt einen neuen Zugang, diesmal an der anderen Hand. Ich schließe die Infusion und das EKG wieder an, schalte es wieder ein.
Endlich kommt der Arzt. Er ist ungekämmt, wirkt übernächtigt. Margret schildert kurz, was vorgefallen ist. Der Arzt füllt einen Zettel aus, sagt: „Giftschrank oben rechts“ und drückt ihn mir in die Hand. Margret gibt mir den Schlüssel, ich gehe ins Stationszimmer, mühsam entziffere ich ...morphin und finde die entsprechende Ampulle. Morphin – Opiumderivat – Morpheus – Gott des Schlafs – schießen mir die Gedanken durch den Kopf. Ich hole ein Injektionsbesteck, ziehe die Ampulle auf. „Worauf warten Sie noch?“ fährt mich der Arzt an. „Darf nicht, bin nicht examiniert“ stottere ich. Ruhig nimmt Margret mir die Spritze aus der Hand, „bittesehr“, reicht sie dem Arzt, pumpt die Manschette vom Blutdruckmessgerät auf. Der Arzt wirft Margret und mir einen ärgerlichen Blick zu, sagt aber nichts und setzt die Spritze. Margret macht den Eintrag in die Kurve, der Arzt geht und knurrt Margret noch an: „Stationszimmer“. „War o. k.. Hast dich richtig verhalten“ sagt Margret noch und zieht die Tür hinter sich zu. Nun bin ich mit dem Patienten wieder allein im Intensivzimmer. Er atmet schwer, hat die Augen nochgeschlossen. Und wieder: Puls, Blutdruck, Fieber messen, Ausscheidungen ablesen, Messbecher entleeren. Der Beutel ist voll, Ventil schließen, Beutel und Inhalt in Infektionsmüll bzw. Toilette entsorgen, neuen Beutel anschließen und Hände waschen; Messwerte eintragen. Er rührt sich nicht. Draußen höre ich die ersten Vögel, es ist noch dunkel. Der Lichtpunkt am EKG zieht nach wie vor seine Bahn, Systole, Diastole, Systole... . Ich döse mit halb geschlossenen Augen vor mich hin.
Da schaut er mich an. Ohne irgend ein Anzeichen von Unruhe hat er seine Augen geöffnet. Die Pupillen sind riesengroß, aufgrund der Dunkelheit und der Medikamente. „Schwester, können Sie beten?“ „Ja.“ antworte ich. „Dann tun Sie es. Bitte.“ „Vater unser“ fange ich an. Meine Stimme kommt mir fremd vor. Die vertrauten Worte bleiben im Hals hängen. Mühsam spreche ich weiter. Warum fällt es mir so schwer? Er schaut mich ganz ruhig an. ".. dein Reich komme ..." gleich habe ich es geschafft „...sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist – ". Das EKG fängt an zu pfeifen. Was ist los? Kein Signal, der Pulszähler auf Null. Ich taste seinen Puls am Handgelenk. Nichts. Ich drücke die Klingel, lasse das Kopfende herunter. Zum Glück ein Intensivbett – sonst müsste ich ihn noch von der Matratze holen für die HLW. Herzmassage, wie war das noch? Vier Fingerbreit über dem unteren Brustbeinende? Ich weiß nichts. Ich knie auf der Bettkante und fange an. Zuerst beatmen. Wie oft? Zwei mal beatmen. Dann die Herzmassage, 15 Mal – oder doch 30? Puls? Nichts – das rote Lichtchen bleibt aus. Beatmen. Herzmassage. Margret kommt herein „Gut, mach weiter so“ und greift zum Telefon. „Intensivzimmer Urologie; Herzstillstand“ sagt sie, mehr nicht. Herzmassage, Beatmen, Herzmassage. Margret löst mich ab. „Notfallkoffer“ sagt sie zwischen zwei Herzmassagen. Ich hole ihn aus dem Schrank und öffne ihn auf dem leeren Nachbarbett. Dieses Mal ist der Arzt wesentlich schneller da. Er klemmt die Elektroden vom EKG ab und tastet den Puls. Defibrillator, Elektroschock. Nichts. Beatmen. Noch mal Elektroschock. Wieder nichts. „Der packt es nicht mehr. Aus. Vorbei. Exitus“ sagt der Arzt und schaut auf die Uhr; Todeszeitpunkt 4.35 Uhr trägt er in die Kurve ein. Genau zehn Jahre älter als ich. Er wird nicht mehr älter. Er sieht friedlich aus. Margret schließt seine Augen und zieht das Laken hoch. „Die Frühschicht soll die Angehörigen benachrichtigen und ihn in die Pathologie schaffen.“ sagt der Arzt „Ich mache den Totenschein fertig.“ und geht.
Exitus – das müsste doch eigentlich hinausgegangen heißen – denke ich. Aus – Hinaus; Vorbei Hinaus gegangen. Wohin? Denn dein ist das Reich. Und die Kraft. Und die Herrlichkeit. In Ewigkeit. Amen. Ob er gewusst hat, dass es zu Ende geht? Er hat es vielleicht gespürt. „Dein erster Toter?“ fragt Margret leise. Ich nicke. Sprechen kann ich nicht. „Willst du noch bei ihm bleiben?“ Wieder nicke ich und eine Träne tropft auf den Kittel. „Ich bin dann im Schwesternzimmer“ sagt sie und lässt die Türe einen Spalt breit offen.
Vor einem anderen Krankenhaus
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